Im Jahr 1940 tobte der Zweite Weltkrieg noch mit dem Schlachtenglück auf deutscher Seite. Das Dritte Reich expandierte und der Größenwahn wurde überall zelebriert. Um die Kinder von heute zum stolzen Soldaten oder der fleißigen, kinderreichen Mutter von morgen zu erziehen, war rechtzeitiges formen der ABC-Schützen nötig.
Dazu gab es in der 1. Klasse diese Fibel:
Meine Ausgabe stammt vom September 1940
und beginnt, damals wie heute, mit ersten Lauten und den dazugehörigen Vokalen in Schreibschrift. u – Buch, Uhr, Schuhe.
Schon ein paar Wochen später ging es mit Silben weiter. Sssst macht die Sense, der Brummkreisel summt und die Biene macht ssssss. Muh macht die Kuh, Milch für das Kind und Maus und Mühle sind auch nicht weit.
Ein paar Seiten weiter hieß es dann: „Male eine feine Fahne!“ Diese Seite merken wir uns einmal. Dazu gibt es am Ende des Artikels mehr Informationen.
Was wird hier unterrichtet? Wortendung’n bei den’n das e nicht verschluckt werd’n soll?
Seite 27 hat mich erfreut, da ich hier einige Teile meines Sandspieles wiederentdeckt habe.
Der Unterschied zwischen weichem g und hartem k wird hier erklärt. Der Junge mit der Sammelbüchse – vielleicht für’s Winterhilfswerk – ist zur Stelle.
Wenige Seiten später marschiert das Jungvolk der Hitler-Jugend mit wehender Sig-Rune und Dieter, der die Trommel schlägt. Auch diese Seite merkt euch für das Artikelende.
Ebenso wie die vorige, kommt jedem alten DDR-Kind auch die nächste Seite vertraut vor. Die Embleme haben gewechselt, die Ziele des Soldatseins wurden umgeschrieben, aber der Wunsch, später selbst zu den Soldaten gehören zu dürfen, wurde immer gefestigt.
Zur Mitte des Schuljahres wurden die Texte länger, komplexer und politisch deutlicher. „Wir wollen unsere Flagge lieb haben. … Deutschland über alles!“ Auch eine Seite für den Artikelschluß.
Wieso das B so spät im Lehrplan steht, kann ich mir nicht erklären. Aber Tante Berta Beier im Breslauer Birkenweg hat sich sicher über den Brief vom Bernhard gefreut.
Die dumme kleine Inge
Der 20. April wurde, wie überall im Dritten Reich, der Geburtstag Hitlers gefeiert. Laut mehrerer Quellen war Hitler von seiner Glorifizierung wenig begeistert, aber sein klumpfüßiger Märchenonkel mit jüdischem Vornamen hat sich durchgesetzt und an jedem Ort den Huld platziert.
Weiter geht’s im Wonnemonat Mai. Seit 1933 durch die Bemühungen der NSDAP zum Feiertag in Deutschland auserkoren, wurde der 1. Mai landesweit mit Blumen und Fahnenschmuck begangen.
Muttersorgen. Sie sollten in den kommenden Jahren noch viel größer werden.
Aber der absolute Tiefpunkt dieses Buches kommt auf Seite 80 mit dem mittleren Abzählreim. Seht selbst:
Je näher das Schuljahresende rückt, desto stärker hält die politische Erziehung Einzug in die Fibel unserer Erstklässler.
Aber auch die steigende Rohstoff- und Materialnot zeichnet sich bereits im zweiten Kriegsjahr ab. Die früher bereits erwähnten Knochensammlungen haben es in den Alltag geschafft.
Das Schuljahr ist aus, alle gehen nach haus. Die leicht negativen Töne im letzten Artikel sind heute wahrscheinlich undenkbar. Wer weiß?
Und nun kommt noch der aus meiner Sicht interessanteste Teil der Geschichte dieses Buches. Die Fibel für die deutsche Jugend war die letzte im Deutschen Reich herausgegebene Fibel für Erstklässler. Nach Kriegsende war sie weit verbreitet und im Nachkriegsdeutschland war Material an allen Ecken und Enden knapp. Daher entschloss man sich, die alten Fibeln auch weiterhin zu verwenden, jedoch wurden alle Seiten mit nationalsozialistischem Bezug herausgetrennt. So fehlen in fast allen heute noch erhältlichen Exemplaren ganze oder halbe Seiten. Einige habe ich euch oben schon zum Merken aufgetragen. Ich war sehr froh, neulich auf dem Flohmarkt meines Vertrauens ein komplettes und nahezu neues, weil unbenutztes Exemplar zu bekommen. Die editierten Fibeln waren noch bis in die 1950er Jahre in der DDR gebräuchlich.
Meiner Ansicht nach sollte Politik zu keiner Zeit Thema in Lesebüchern sein. Dazu gibt es spätere Unterrichtsfächer und die Kinder werden nicht blind indoktriniert.
Letztlich ist Lesenlernen mit Texten immer auch kulturelle Erziehung. Das ist natürlich ein sehr schönes Beispiel, Aber wenn ich so an meine Schulbücher zurückdenke: Lauter Familien, schön artig mit jeweils einem Jungen und einem Mädchen, alle weiß, alle blond.
Die Normativität solcher Bilder ist sicherlich schwächer als in deinem Beispiel, aber dennoch da. Ich würde mir nicht die Verbannung der Politik aus Fibeln wünschen, sondern ein Bewusstsein, welche Werte man damit vermitteln möchte. Angesichts der Realität an unseren Grundschulen ist es folgerichtig, auch Alis und Vesnas in die Fibeln einziehen zu lassen – aber das ist auch eine politische Entscheidung, denn es ist eine Antwort darauf, was als „normal“ empfunden werden soll.
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Aber „und der Jude kriegt keins.“ ist schon böse, oder?
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Ich finde das ganze Ding ziemlich verabscheuungswürdig. An der Stelle war ich schon so entsetzt, dass mir nur noch exzessives Kopfschütteln blieb.
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