Neulich habe ich mir Zwirnsfaden kaufen müssen, weil ich einen Gurt meiner Fototasche diebstahlsicher machen wollte. Dazu brauchte ich noch einen Satz Nadeln und jede Menge Hoffnung, daß ich weiß, was ich tue.
Zu hause fiel mir ein, daß ich ja durchaus Nadeln besitze. Zwei hübsche alte, Nadel-Sortimente aus der Jugend meiner Mutter.
Die Marke Tannen-Nadeln ist natürlich eine perfekte Wahl:
Nun ja, jetzt habe ich noch mehr davon und irgendwann werde ich vielleicht nochmal was nähen.
Früher wurde definitiv mehr genäht und gestickt. Als Kind habe ich das auch mal probiert, fand es toll und habe auf diese Weise mehrere Kissen verziert. Eins habe ich noch.
Die Vielfalt an Zwirnereien, also Betrieben, die Nähfäden herstellten muß vor 1900 recht groß gewesen sein. Nähen war eine Tagesbeschäftigung der Frauen. Alles wurde selbst gemacht, repariert oder umgearbeitet. Von Herrn Hennes und seinem Kumpel Herrn Mauritz wußte niemand etwas und Bangladesh war weit weg und unbekannt.
Um das Augenmerk auf seine Produkte zu lenken, kam der Nachfolger von Herrn Eusebius Schiffmacher aus Göggingen auf die Idee, Werbung zu machen.
Er ließ verschiedene Klappkarten chromolithographisch herstellen und informierte die Kundinnen über das Angebot und die Marken. Branding würde man es heute nennen.
Links seht ihr die verschiedenen Artikel: Nähfaden, Häkelgarn, Stopf- und Stickgarn. Dazu das jeweilige Etikett, wie es oben auf den Spulen geklebt hat.
Auf der rechten Seite gibt es eine Menge Informationen für die Hausfrau, aber heute auch für uns. Die Schreibweise der Worte „garantirt“ oder „waschächt“ verrät uns, daß die Karten vor der II. Orthographischen Konferenz im Jahre 1901 gedruckt wurden. Das war eine der Rechtschreibreformen in Deutschland und brachte so wichtige Neuerungen wie das Weglassen des ‚h‘ in Worten wie Thee, Thür oder Thal, aus der Endsilbe -niß wurde -nis (das haben manche bis heute nicht gelernt) und man regirte und addirte nun mit einem zusätzlichen ‚e‘.
Da im oberen Teil die gewonnene Goldene Medaille der Landesgewerbe-Ausstellung in Nürnberg 1882 erwähnt wird, können wir die Karten auf eine Zeit zwischen 1882 und 1901 datieren. Sehr wahrscheinlich sind die 1890er Jahre. (überraschenderweise, wie so vieles in meiner Sammlung)
Ich habe nach dem Ort Göggingen gesucht, bin aber nicht so recht schlau geworden. Wikipedia schreibt, daß es drei davon gibt. Bei der Auswahl hier ist allerdings der Hinweis auf unserer Werbung links unten (Schwaben) (Bayern) nicht sehr hilfreich. Klärt mich auf – ist Schwaben ein Teil von Bayern?
Ich kann euch noch die Fabrikzeichen erklären, die rechts in der Mitte zu sehen sind. Das sind geschützte Namenszüge und Symbole, vergleichbar mit der Coca-Cola-Schrift oder dem Nike-Swoosh. ESC steht für Eusebius Schiffmacher & C(ompagn)ie, ZNFG steht für Zwirnerei & NähfadenFabrik Göggingen.
Der Hinweis an die Kundin darunter ist auch sehr interessant.
Wie sieht die Rückseite aus?
Der Damenwelt gewidmet von der Zwirnerei & Nähfadenfabrik Göggingen. Na, was wird sie sich bedanken!
Ein paar schöne Stickvorlagen auf der linken Seite, Sprüche der Weisheit auf der rechten. Das alles hat man zuhauf auf den Werken der Damen, den Aussteuerhandtüchern, Rolltüchern und anderen dekorativen Aufhängtextilien im Reiche der Hausfrau wiedergefunden.
Des Menschen Bestes muß verderben, will er nur Geld und Gut erwerben.
Nach eitlem Nachruhm mögen And’re streben, mir blüht im Schaffen selbst ein ew’ges Leben.
Der Mensch trachtet so sehr nach Reichtum und nach Ehr‘, und wenn er das Alles erwirbt, so legt er sich nieder und stirbt.
Die Finsterniß sei noch so dicht, dem Lichte widersteht sie nicht. (argh!)
Es gibt noch eine zweite Karte in meiner Sammlung. Sie besticht durch zwei mäßig dekorative Knicke und sieht außen genauso aus, wie die erste.
Aber die Rückseite wartet mit neuen Mustern und noch tolleren Sticksprüchen auf:
Es ließe Alles sich trefflich schlichten, könnt Alles bequem man zweimal verrichten.
Mit großen Herren rechten, ist mit zehn Mannen fechten.
Tugend will ermuntert sein, Bosheit kann man schon allein.
Jetzt habt ihr ausreichend Ideen für die langen Winterabende. Schmeißt den Fernseher aus dem Fenster und holt das Stickzeug vor. Eine schöne Filethäkeldecke oder ein Kreuzstichtischtuch wird doch zu schaffen sein.
Wieder ein Klassebeitrag, für mich ist das blanke Werkzeug auf Foto 2 das am unentbehrlichsten, wenn ich mal nähe. Da ich aber so eine Einfädelhilfe nicht habe, nähe ich auch nicht.😁
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Das ist ja ne ganz billige Ausrede! 🙂
Da man aber auch die Einfädelhilfe erst mal durch das Öhr fadeln muß, erschließt sich mir der Sinn davon nicht.
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Immer wieder faszinierend, diese gesammelten Museumsstücke! Ich habe mir erlaubt, zwei Scans hier zu verwenden: https://docs.com/papiersammler/9197/zwirnerei-und-nahfaden-fabrik-goggingen?c=C2E6QC
Vielen Dank!
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Nur zu! Mein Wunsch ist, das Zeug nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Mit Quellenangabe kann jeder alles nutzen, sofern nationalsozislistische Sachen nicht zur Glorifizierung verwendet werden.
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