Stellt euch vor, ihr wohnt in Konstantinopel, seid ein guter Verkäufer und sollt für eine Münchener Firma, die Waagen herstellt einige ihrer Produkte im eigenen Land verkaufen.
Dazu benötigt ihr eine Vollmacht. Schnell hingeschriebene vier Zeilen:
Wir Bevollmächtigen hiermit Herrn Dipl.Ing. Midhat R e d j a i Constantinople, Chichli Rue Ahmed Bey 53, uns bei der von der Türkischen Regierung ausgeschriebenen Submission zu vertreten, für uns zu verhandeln, ab zu schliessen und die Verträge zu unter schreiben. München, den 19. Juni 1925
Stempel drunter, zweimal unterschrieben und ab geht die Post. Weit gefehlt!
Zuerst zum Notar: Nr. 1603: „Die Echtheit vorstehender Unterschrften der Herren …. Göbler und Oskar Lange (oh, mein Groß-Onkel), beide Kaufleute in München wird hiermit beglaubigt. München den neunzehnten Juni eintausend neunhundertfünfund zwanzig. Justizrat Sommer, München X. Notargebühr, Staat: 2 Mark, Notar: 1,40; Pauschale: -,50 (wahrscheinlich für die ausgeschriebene Jahreszahl eintausend neunhundertfünfund zwanzig); Auslagen: -,10
Und war es das? Mitnichten!
Die Echtheit der vorstehenden Unterschrift des Notars Justizrats Sommer in München, Inhabers des Notariats München X, wird hiermit bestätigt.- München den neunzehnten Juni neunzehnhundertfünfundzwanzig. ——–Der Präsident des Landgerichts München I
und weiter:
Die Echtheit vorstehender Fertigung bestätigt der unterzeichnete Geheime Sekretär im Bayer. Staatsministerium der Justiz. München, den 19. Juni 1925. Kalbskopf – 6 Mark Gebühr
weiter geht’s:
No. 69, Gebühr 6 M – Beglaubigt, München, den 18. (soso) Juni 1925, Bayer. Staatsministerium des Aeussern
Und weiter von München nach Berlin:
No. 3748/1734 – Taxe 21,60 M
Diesmal auf französisch eine Beglaubigung der Vollmacht durch den Türkischen Konsul in Berlin.
Und für den Fall, daß auch jemand in der Türkei das ganze Tohuwabohu verstehen will, ganz unten noch eine Übersetzung ins Türkische, das damals noch ganz anders aussah als heute. Bis 1928 wurde arabisch geschrieben. Erst dann hat Kemal Atatürk die lateinische Schrift eingeführt.
Ob Herr R e d j a i letzten Endes tatsächlich irgendetwas verkauft hat, ist mir nicht bekannt. Aber mein Onkel und sein Kompagnon hatten definitiv einen strammen Tagesplan am 19. und 20. Juni 1925 (einem Freitag und Samstag).
Die türkischen Gebührenmarken haben nicht alle so gut gehalten. Überall, wo man noch Reste der „Solvit“-Stempel erkennen kann, haben welche geklebt. Einige habe ich noch in der Hülle, in der auch die Vollmacht wohnt. Aber einige sind schon weg. Der wichtigstes Teil des Dokuments ist aber noch erhalten.
Heutzutage heißt Konstantinopel übrigens Istanbul, ist die größte Stadt der Türkei und gehört nicht mehr zum Osmanischen Reich.
Ob es übrigens die Firma Alois Müller & Sohn heute noch gibt, weiß ich nicht. Sie hat aber definitiv nichts mit dem gleichnamigen Milch-Mafioso der nach ihm benannten Milch zu tun.
Dieser Beitrag hat mich gut auf meinen heutigen Tag eingestimmt, habe auch einen Amtsbesuch vor. 🙂
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Dann sag, wie er verlaufen ist.
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Keine Kritik. Konnte am Abend eine Flasche Wein entkorken. 🙂
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