Meine Omi war nicht immer alt. Je älter die Fotos von ihr sind, desto jünger ist sie darauf. Kurios! Begonnen hat es mit ihr, ähnlich wie bei vielen meiner Leser, mit der Geburt. Und damals wie heute hatten die Eltern nichts besseres zu tun, als sich ein Buch zu kaufen, in dem sie das erste Lebensjahr des neuen Erdenbürgers auf’s genaueste dokumentieren. … wollten.
Denn damals wie heute hat man nach der Geburt festgestellt, daß man eigentlich viel wichtigere Dinge zu tun hat, als ein Buch vollzuschreiben. Darum wurde auch nie eine „Photographie des Kindes“ in den ausgesparten Raum eingefügt.
„Unser Kind“ hieß – ihr werdet erraten haben, daß sie nicht immer „Omi“ hieß – Elfriede. Und so sah sie aus:
Wer sich nun wundert: „die Eltern kennst du doch“. Genau, die beiden Eltern haben sich hier verlobt. Die ersten Lebensdaten Geboren am 3. Oktober 1910 um 23 Uhr und mit 3000 Gramm und 50 Zentimeter eher mickrig. Aber schon nach vier Monaten hatte sie ihr Lebendgewicht verdoppelt und mit einem Jahr war sie schon bei ca. 9kg. Der Vorläufer des Selfie – Ende April 1911, ein gutes halbes Jahr alt. Highlights aus dem Leben einer Oma:
Titelzeile: Das Lied, das an der Wiege klingt, klingt durch das ganze Leben.
- Das erste Lächeln: 4. November 1910
- Die erste Ausfahrt: 19. Oktober 1910
- Aus dem Tragebettchen (Steckkissen) – Wikipedia sagt: Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland das Steckkissen verwendet, eine Art wattierter Leinenschlafsack. Das Baby wurde „hineingesteckt“, der Körper einschließlich der Arme fest gewickelt. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden dabei schließlich die Arme frei gelassen.
- Das erste Kleidchen und die ersten Schuhe: Anfang Juni & 5. September 1910
- Unser Kindchen kann allein sitzen: 10. April 1911
Respekt, liebe Omi! Es gibt noch dieses herzallerliebste Foto:
Titelzeile: Mögen Dich Musen geleiten und flechten Dir Kränze ins Haar.
Hurra, unser Kindchen ist heute sechs Monate alt!
Das erste abgeschnittene Haar ist leider abhanden gekommen oder war nie da. Dafür gibt es die Eintragung: Die erste Reise: Am 14. Juli 1911 nach Oldenburg (denn da kam die mütterliche Linie her).
Titelzeile: Zur Wiege – nicht zum Grabe, wo alles schon erreicht – gehört des Wunsches Gabe: Die Erde sei Dir leicht! (Das hat ja nicht so richtig hingehauen: erstes Kind gleich gestorben, zweiter Sohn mit 20 gefolgt, Vater der drei kleinen Kinder im Krieg geblieben, ausgebombt – aber davon war hier – 26 Jahre zuvor natürlich noch nicht die Rede)
- Das erste Zähnchen (und seine Genossen): 25. April, 20. Juni, 6. Juli, 2. August, 28. September (die genauen Positionen hat sich meine Uroma auf dem beiliegenden Kassenzettel der Posamenten-, Spitzen-, seidene Stoffe- und Strumpfwaren-Handlung Hans Koch im Erfurter Hirschgarten notiert, nachdem sie am 11. Juli 1911 0,8m Band gekauft hatte)
- Wechsel in der Ernährung: Anfang Januar 1911
- 1. Kindeslallen: Mitte Januar
- Kriech- und Stehversuche: 29. August
- Der erste Schritt im Gängelbande: 6. Oktober
Der erste Geburtstag war ein großer Erfolg. Unter dem Motto: „Nun laßt uns froh den schönen Tag begehen, der uns den teuren Liebling gab!“ kamen
- Frau Liebe,
- Frau Geyer,
- Frau Henning,
- Fräulein Kieser,
- Else, Lotte und Margaete Henning und
- Sigrid Geyer
Und da ist sie nochmal – die kleine Elfriede (Stand: 20. September 1911): Zum Buch erhielt man noch die Broschüre „Die Pflege des Säuglings. Der Mutter gewidmet“ (Bearbeitet von einem Kinderarzt)
Kaiser’s Kindermehl
Vollkommen leichtverdauliches und lösliches Nährmittel für gesunde, kranke und schwächliche Kinder.
Bestgeeignetes Ersatzmittel der Muttermilch.
1/4 Ko. Dose 65 Pfg. – 1/2 Ko. Dose Mk 1.25
Kaiser’s Kindermehl
bewährt sich, wie durch viele Ärzte nachgewiesen ist, ganz hervorragend zur Beseitigung von Darmkatarrh, Erbrechen und Diarrhoe der Kinder.
Kaiser’s Kindermehl
gibt Kraft und Knochen.
und wird ein Versuch jeder Mutter stets lohnend bleiben.
Käuflich in den meisten Apotheken, Drogerien und besseren Kolonialwarenhandlungen, wo nicht zu haben wende man sich direkt an die Fabrik medizin-diät. Präparate,
Fr. Kaiser, Waiblingen-Stuttgart.
Fabriken in: Bregenz, Oesterreich und St. Margarethen, Schweiz
Zu guter letzt noch die in der Rückenklappe eingesteckte „Gewichtscurve für Säuglinge“, allerdings unbeschrieben. Aber das Gewicht haben wir ja schon weiter oben gesehen.
Bei genauer Betrachtung haben sich meine Urgroßeltern doch redliche Mühe gegeben, das Büchlein mit Informationen zu füllen. Daß ihre Notizen einmal nach über 100 Jahren im Internet veröffentlicht werden würden, haben sie sich damals wohl nicht träumen lassen. Selbst die Jüngste der hier abgebildeten ist 1996 gestorben. Aber mit diesem Artikel habe ich sie unsterblich gemacht – meine Omi.