Die stärkste Frau der Welt – Charlotte Rickert


Manchmal lese ich Bücher, die mir während des Lesens schon ausgesprochen gut gefallen und die mir hinterher noch viel Nachdenken bescheren. So letztlich geschehen mit dem Buch „Das Buch der vergessenen Artisten“ von Vera Buck.

Vera Buck, Das Buch der vergessenen Artisten
Vera Buck, Das Buch der vergessenen Artisten

Eine Zusammenfassung des Inhalts bekommt ihr unter dem Link oben. Das Buch könnte eine leichte Unterhaltung bieten, wenn man es oberflächlich durchliest und sich an der Hauptgeschichte erfreut. Damit war es bei mir aber an der falschen Adresse.

Im Buch gibt es haufenweise Nebenhandlungen und kleine, aber feine Zusatzinformationen, die dem flüchtigen Leser durch die Hirnlappen gehen. Und ich habe sie alle nachgeschlagen.

Da ist beispielsweise von einer spektakulären Trapezvorführung aus dem Jahr 1901 im Pariser Varieté Moulin Rouge die Rede. Nicht etwa, weil Miss Charmion, die eigentlich Laverie Vallee hieß und aus Sacramento stammte, halsbrecherische Übungen vorführte. Nein, sie zog sich auf dem Trapez aus! 1901!

Ihr glaubt es nicht und wollt den von Thomas A. Edison mittels seines patentierten Filmaufnahmeverfahrens hergestellten Beweis sehen?

Charmion -

Habe ich zu viel versprochen?

Und es gibt noch viele weitere Merkwürdigkeiten (dieses Wort wurde früher benutzt, um auf Sachen aufmerksam zu machen, die des Merkens würdig waren). Wusstet ihr, dass es um die Jahrhundertwende auf dem Münchner Oktoberfest noch Nutztiere zu bestaunen gab und ein Pferderennen um die Theresienwiese veranstaltet wurde? Hier der Plan von 1910 mit der 2000-Meter-Rennbahn und links den Hallen für Schweine, Rinder und Pfere (es sollte wohl Pferde heißen):

Münchner Oktoberfest 1910

Und es gab Röntgenapparate, die auf Jahrmärkten angeboten wurden und für kleines Geld den erschreckten Besuchern ihr Innenleben zeigten. Lest dazu hier.

Die mich am meisten beeindruckende Nebenperson des Buches ist allerdings Charlotte Rickert. Sie ist einer der Charaktere, die tatsächlich existierten und ihr hat Vera Buck das Buch stellvertretend für all die vielen namenlosen Artisten aus der Vergangenheit gewidmet.

Wer war Charlotte Rickert? Liselotte L. „Charlotte“ Rickert–Stengel wurde am 31.10.1919 in Friesenheim geboren. Als Kind einer Zirkusfamilie mit einem Gewichtheber als Vater trat sie bereits mit 2 1/2 Jahren auf ihren Händen balancierend auf und entdeckte bei einer Varieté-Veranstaltung ihr Talent für Kraftkunststücke. Sie begann als Achtjährige mit dem Verbiegen von Hufeisen und wurde schnell entdeckt. Ihre Karriere nahm einen steilen Aufstieg. Gemeinsam mit ihrer Schwester Marlis trat sie auf so berühmten Bühnen wie dem Berliner Wintergarten oder dem Wiener Varieté Ronacher auf.

Charlotte Rickert, Schumann-Theater, Frankfurt a.M., um 1940

Über Charlotte Rickert findet man erstaunlich wenig auf Google – das möchte ich heute ändern. Ein Satz im Nachwort von Vera Buck hat mich aufhorchen und recherchieren lassen. Wie dort erwähnt, ist Charlotte Rickert bei den Olympischen Spielen 1936 als einzige Frau in der Disziplin „Gewichtheben“ angetreten und hat alle teilnehmenden Männer geschlagen. Weil sie aber die einzige Frau in dieser Männerdisziplin war, erhielt sie keine Goldmedaille, sondern lediglich eine Anerkennungsurkunde.

War dem so?

Zuvor noch einige Hintergrundinformationen zu Charlotte: Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verschlug es sie und ihre Familie nach Polen. Sie wurde zur Unterhaltung der Frontsoldaten in die Nähe der Ostfront gesandt. Ihre Mutter wurde auf dem Rückzug der Wehrmacht verwundet und Charlotte trug sie über weite Strecken zurück nach Deutschland, etwas, dass sie als normal-kräftige Frau nie bewältigt hätte. Sie heiratete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den amerikanischen G.I. George Stengel, den sie im Nachkriegs-Deutschland bei einem ihrer Auftritte kennenlernte. Mit ihm zog sie 1947 in die USA und keine zwei Jahre später kam Sohn George jr. zur Welt.

Im Jahr 1950 begann sie auf Bitten ihrer Geschwister, wieder in Shows aufzutreten. Während einer Show in Pennsylvania drang lautes Geschrei bis auf die Bühne – ihr Wohnwagen hatte Feuer gefangen. Darin lag das schlafende Baby. Beim erfolgreichen Rettungsversuch zog sich Charlotte an großen Teilen ihres Körpers starke Verbrennungen zu und Ärzte kämpften wochenlang um ihr Leben. Durch dieses Erlebnis begann sie über ihr Schicksal nachzudenken und an Gott zu glauben. Sie engagierte sich in der Gemeinde ihres Wohnortes und begann – durch ihre Erlebnisse in Kriegsdeutschland belastet – sich für die Bedürftigen einzusetzen.

Als gute Seele der Kleinstadt Cairo im Bundesstaat New York – einem 2000-Seelen-Städtchen – fuhr sie mit dem Auto herum und sammelte Möbel, Kleidung und sonstige Gaben ein, um sie den Bedürftigen zu bringen. Und bis ins hohe Alter trug sie alles selbst – bis sie mit 91 Jahren in ein Pflegeheim zog.

Sie starb im Alter von 93 Jahren am 20. Januar 2013.

Meine ausgiebige Recherche brachte ans Licht, dass Charlotte leider nicht an den Olympischen Spielen teilgenommen und demzufolge auch keine Medaille gewonnen hat. Allerdings gibt es den folgenden Zeitungsartikel auf dem Portal ANNO – der Österreichischen Digitalen Zeitungsbibliothek. Klickt auf das Bild für eine größere Ansicht und lest den Abschnitt rechts neben ihrem Foto.

Charlotte Rickert - die Geschichte von der Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 1936
(c) ANNO

Wie sie berichtet, hat sie bei einem Richtfest 1935 auf dem Reichssportfeld (das liegt auf dem Berliner Olympiagelände) alle zehn anwesenden, starken Männer besiegt. Daraus hat sich dann wahrscheinlich eine Erzählung entwickelt, die mit jedem Mal ein klein wenig ausgeschmückt wurde. Zu ihrer Zeit musste man sicher keine Angst vor Enthüllungen haben – und selbst wenn, …

Ebenfalls zu dieser Zeit wurde die kaum 14-Jährige (die aber, dem Datum nach, eher kurz vor ihrem 16. Gebrutstag stand) bei der Eröffnungszeremonie des Reichssportfeldes vom Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten als lebenden Beweis vorgestellt, „daß Frauensport durchaus nicht unweiblich machen müsse und daß Anmut und Kraft sehr wohl in einem jungen, trainierten Frauenkörper vereint sein können“. Lest hier (gleich zu Beginn des Artikels):

Charlotte Rickert - die Eröffnung des Reichssportfelds in Berlin, 1935

Auch wenn Charlotte Rickert keine Goldmedaille gewonnen hat, ist ihr Leben mehr als nur eine Randnotiz im Internet wert. Ich möchte mich herzlich bei Vera Buck bedanken, dass sie mich auf diese interessante Person aufmerksam gemacht hat. Vielleicht kann ich mit meinem Artikel noch ein wenig mehr zur posthumen Berühmtheit beitragen.

Es darf nicht vergessen werden, dass Charlotte in den 1930er und 1940er Jahren durchaus berühmt war.

Im Sonderheft zum 50-jährigen Bestehen des Berliner Varietés Wintergarten

Wintergarten Jubiläumsheft 1938

wird Charlotte auf der folgenden Seite als Teilnehmerin bei einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Show von 1935 erwähnt.

Wintergarten Jubiläumsheft 1938

Aus ihren Auftritten aus dieser Zeit habe ich neben der Postkarte, die ich euch ganz oben vorgestellt habe, auch diese hier:

Charlotte und Marlis Rickert

Es ist eine Buchungskarte. Wer an einem Auftritt interessiert war, konnte die Rückseite ausfüllen und eine Buchungsanfrage an die (vermutlich) Schwester senden, die in Ludwigshafen am Rhein wohnte und offenbar als Managerin arbeitete.

Charlotte und Marlis Rickert, Buchungskarte

Ebenfalls im oben gezeigten Wintergartenheft habe ich diese Seite mit Plakaten vergangener Shows gefunden:

Loie Fuller

Auch die in der Mitte der Seite im kleinen Bild gezeigte Loïe Fuller (eigentlich Marie Louise Fuller aus Fullersburg, Illinois) spielt in Vera Bucks Buch eine Rolle, nämlich die der Erfinderin des Radium-Tanzes. Dafür trug sie Kleider in denen sie das Publikum mittels selbst hergestellter fluoreszierender Farben in Erstaunen versetzte. Und genau das hat sie unter anderem im Moulin Rouge tatsächlich getan. Klickt hier für ihre Filmaufnahme von 1905:

Loie Fuller - 1905

Noch neun Jahre älter – von 1896 – ist der erste erhaltene Film mit ihr – aufgenommen von den Brüdern Lumière:

Loie Fuller - 1896

Beide Filme wurden übrigens nachträglich koloriert.

Und zum Abschluss meine Empfehlung: Kauft euch das Buch und lasst euch vom Leben der Schausteller begeistern! Die erzählte Geschichte ist weit mehr als das, was ich euch hier vorgestellt habe. Von den 752 Seiten des Buches umfasst mein Artikel vielleicht gerade einmal den Inhalt von 15 Seiten. Link

Bei der Zusammenstellung dieses Artikels habe ich neben Wikipedia, YouTube und einem netten Chat mit Vera Buck die folgenden Quellen verwendet:

  • Staatsbibliothek Berlin – ich habe alle, wirklich alle Publikationen, die im Zusammenhang mit den Teilnehmern an den Olympischen Spielen 1936, den Wettkämpfen im Gewichtheben der Jahre vor den Olympischen Spielen 1936 und Beträgen zu Frauendisziplinen durchgeblättert.
  • Staatsbibliothek Berlin – Mein Dank geht an die Fachreferenten des Recherchedienstes Sabine Tolksdorf und Heinz-Jürgen Bove
  • Staatsbibliothek Berlin – Publikationen des Berliner Varieté Wintergarten
  • Olympia-Zeitung 1936, Komplett-Digitalisat der Universitätsbibliothek Heidelberg – https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/olympia_zeitung1936
  • ANNO – AustriaN Newspapers Online – http://anno.onb.ac.at – eine wirklich grandiose Datenbank aller österreichischen Zeitungen und Zeitschriften, mit Text-Suchfunktion
  • Linda Lemons‘ Blog https://livingthelemonslife.blogspot.com/2013/01/an-athlete-olympian-and-true-hero.html – ein Nachruf auf Charlotte Rickert; Wer sich den Artikel anschaut, entdeckt, dass Linda ein früheres Bild von Charlotte Rickert gesucht und bei einer Auktion gefunden hat. Und exakt dieses Bild habe ich 6 Jahre später gekauft. Ihr erkennt es an dem kleinen Einriss über dem „r“ von „Theater“ und dem Fleck auf dem Tuch neben ihrer Schwester.
  • Verlag Random House – https://www.randomhouse.de/Buch/Das-Buch-der-vergessenen-Artisten/Vera-Buck/Limes/e509937.rhd

5 Antworten auf „Die stärkste Frau der Welt – Charlotte Rickert

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      1. Ein wunderbarer Artikel! Und was für eine Rechercheleistung! Ich werde auf jeden Fall irgendwann das Buch lesen.

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