Ein altes Jahr ist um, ein neues ist da.
Dieser Artikel erscheint zu Beginn des Jahres 2020, einer Zeit, in der Kalender zu überwiegend dekorativen Zwecken an der Wand hängen und einem die besuchsfaule Verwandtschaft oder den letzten Urlaub in Erinnerung bringen sollen. Familien erfreuen sich gelegentlich noch den sogenannten Familienplanern um im letzten Augenblick zu sehen, dass ja heute der Papiermüll abgeholt wird und die Tonne schnell an den Straßenrand geschoben werden muß, oder gestern ja das Kind Geburtstag hatte.
Die Überzahl unserer Termine wird heute in Smartphones verwaltet, synchronisiert und mit echten und vermeintlichen Freunden geteilt und letztendlich doch vergessen.
Früher hatten diejenigen Bekannten, die ihren Geburtstag spät im Monat feiern durften den Vorteil, dass man mehrere Wochen lang den bevorstehenden Jahrestag auf dem Kalender vor Augen hatte. Das sicherte ihnen eine rechtzeitig abgeschickte Geburtstagskarte. Diejenigen, die zu Beginn eines Monats ihren Geburtstag beginnen, bekamen üblicherweise eine Karte mit der ihnen nachträglich die besten Wünsche anheim gestellt wurden.
Mit der Verwendung der online Kalender ist diese schöne Tradition fast ausgestorben. Man sendet eine kurze elektronische – oftmals bereits vorgefertigte – Nachricht, die durch Hinzufügen eines Emojis den Mangel an Ausdrucksvermögen kompensieren soll.
Vor 106 Jahren erfreute man sich eines Kalenderbüchleins. Verbreitet war in der Region um Lahr im Schwarzwald beispielsweise der Große Volkskalender des Lahrer hinkenden Boten.
Andere Regionen hatten andere Kalender. Darüber habe ich euch hier noch einige zusammengestellt.
Ein Merkmal des Lahrer hinkenden Boten war das Titelbild. Es zeigte ab 1825 einen Kriegsinvaliden mit abgetrenntem Bein und einer Stelze an dessen Platz. Im Hintergrund fuhr ein Segelschiff, das später durch ein Dampfschiff ersetzt wurde und im Zuge der Modernisierung wurde eine Eisenbahn eingefügt. Am unteren Rand des Bildes findet sich ein Grabstein, der den Namen des Künstlers trägt.
Hinkende Boten waren damals recht weit verbreitet. Kriegsversehrte konnten durch fehlende Beine nur noch begrenzt Arbeiten verrichten. Daher blieben ihnen nur Dienstleistungen als Lotterie-, Kalender- oder Zeitungsverkäufer und Boten mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten.
Unser Kalender beginnt mit Werbung und ist vollgestopft mit Anzeigen von nah und fern.
Es gibt ein Inhaltsverzeichnis
und das neue Jahr wird mit einem hübschen Gedicht begrüßt. Obwohl er erst am 28. Juli 1914 begann, wird hier schon auf eine Welt in Waffen verwiesen. Lest selbst:
Für jeden Monat steht dem geneigten Kalendernutzer eine Doppelseite voller Informationen zur Verfügung:
Januar oder Schneemond (1891 hieß er hier noch Jänner, obwohl die Region Thüringen – damals zu Sachsen gehörig – nicht viel mit österreichischen Namen zu tun hatte); evangelische und katholische und deutsche Namenstage, Sternzeichen, Mondphase und Planetenlauf sowie Mond- und Sonnenauf- und -untergänge.
Die roten Zeilen hinter der Woche, die auch hier übrigens mit dem Sonntag beginnt, stehen für „Den 2. Sonntag nach Weihnachten“ bzw. „Der 1. Sonntag nach Epiphanias“ (Hl. 3 Könige)
Auf der rechten Seite gibt es eine hübsche Vignette, einen gereimten Witterungskalender (Bei Donner im Winter ist viel Kälte dahinter.) und das Wochenwetter mit Mondphase. Beispiel: Vollmond ist am 12. Januar um vormittags 6 Uhr, 9 Minuten und es wird heiter und kalt.
Februar oder Hornung (hier stimmt die deutsche Monatsbezeichnung mit dem anderen Kalender wieder überein)
Die Namen der Sonntage sind Septuagesima (der 70. Tag vor dem Ende der Osterwoche) und Sexagesima (was konsequenterweise „circa 60. Tag vor Ende der Osterwoche“ bedeutet)
Regenbogen am Morgen, des Hirten Sorgen. Regenbogen am Abend, den Hirten labend. – Des Stinknebels Gewalt macht’s Wetter rauh und kalt.
März oder Lenzmond (im anderen Kalender hieß er Frühlingsmonat)
Viel und langer Schnee: viel Heu, aber mager Korn und dicke Spreu.
April oder Ostermond (Stürmemonat)
Halten Birk‘ und Weid‘ ihr Wipfellaub lange, ist zeit’ger Winter und gut Frühjahr im Gange.
Mai oder Wonnemond (Blüthenmonat)
Lassen die Frösche sich hören mit Knarren, wirst du nicht lange auf Regen harren.
Wenn Spinnen fleißig weben im Freien, läßt sich dauernd schön Wetter prophezeien; weben sie nicht, wird’s Wetter sich wenden, geschieht’s bei Regen, wird bald er enden.
Juni oder Brachmond (identisch mit dem anderen Kalender)
Der Mittag des Freitags prägt oft uns ein, wie künftigen Sonntag das Wetter wird sein.
Eine Elster allein ist schlechten Wetters Zeichen, doch fliegt das Elsternpaar, wird schlechtes Wetter weichen.
Juli oder Heumond (identisch)
Dampft das Strohdach nach Gewitterregen, kehrt’s Gewitter wieder auf anderen Wegen.
Merkt, daß heran Gewitter zieh‘, schnappt auf der Weid‘ nach Luft das Vieh; auch wenn’s die Nasen aufwärts und in die Höh‘ die Schwänze reckt.
August oder Erntemond (identisch)
Ist’s in der ersten Augustwoche heiß, bleibt der Winter lange weiß.
September oder Herbstmond (identisch)
Späte Rosen im Garten, schöner Herbst und der Winter läßt warten.
Oktober oder Weinmond (identisch)
Barmer Oktober bringt fürwahr uns sehr kalten Februar.
November oder Windmond (identisch)
Kalter Dezember und fruchtreich Jahr sind vereinigt immerdar.
Dezember oder Wintermond (Christmonat)
Hans düngte seine Felder schlecht, war Ackermann, jetzt ist er Knecht.
Was finden wir noch in diesem Kalender, der ja immerhin ein ganzes Jahr lang für Unterhaltung sorgen sollte?
Eine kurze Zusammenfassung, was vom Jahr zu erwarten ist:
Werbung für Kunstdünger:
Ein Trächtigkeits- und Brütekalender – eines der Dinge, mit denen der gemeine Stadt- und Vorortbewohner heute nichts mehr anzufangen weiß.
Zeit- und Festrechnung, chronologische Kennzeichen und Zirkel, Fronfasten oder Quatember, Sternzeichen, Mondphasen und Aspekten:
Wer sich, so wie ich, fragt, was man unter den Epakten in der zweiten Tabelle links versteht, der schaue hier.
Es folgen Mond- und jüdischer Kalender
Auch hier zeige ich euch wieder den Portotarif:
Die Genealogie der Herrscherhäuser:
Mehr interessante, teils lustige, teils Nepp-Werbung:
Diese fahrbare Brennholz-Säge und Spaltmaschine oder auch den Nasenformer muß ich haben!
Christbaum-Schmuck, Puppen, Cotillon– und Carneval-Artikel, Masken und Costüme in unerreichter Auswahl!
Regulator mit Wecker und Musik zugleich letzte sensationelle Neuheit erst laut weckend, hierauf ein schönes Musikstück spielend.
Ein Haarfärbekamm und ein Mittel gegen Damenbart. Ich fürchte ja, dass Rudolf Hoffers aus Berlin-Karlshorst ein Betrüger war.
Und gleich folgt noch ein Bauernfänger:
Erstmal möchten 100 Ansichtskarten verkauft werden, bevor man diese Uhr bekommt.
Aber auch die Homöopathie war damals schon ein gern beworbenes Thema:
Neben diesen kleinen Inseraten gab es auch noch einige ganzseitige Werbeanzeigen, die ich euch nicht vorenthalten möchte, weil aus ihnen schon gut der Wandel von der altmodischen, textlastigen Anzeige zur Motivwerbung zu ersehen ist. Ich beginne mit einer sehr altmodischen Anzeige für Sanatogen, einem Aufbaupräparat für geschwächte Nerven und Verbesserung des Allgemeinzustandes. (entgegen meiner Erwartungen bei dieser Werbung, gibt es Sanatogen noch heute)
Wer liest sich so viel Text in einer Werbung durch?
Etwas besser macht das die Firma Jasmatzi aus Dresden, ihres Zeichens größte Zigarettenfabrik Deutschlands. Zuerst ein schönes deutsches Kriegsschiff um die Zielgruppe zu definieren (leider im Querformat)
Auf der Rückseite Werbung für die drei Sorten „Unsere Marine“, „Puck“ und „Dubec“ mit Hinweis auf Prämiengeschenke bei Einsendung der in den Schachteln beigefügten Coupons.
Und zu guter Letzt der Kathreiner Malzkaffee: kurz, prägnant.
Der Text befindet sich auf der Rückseite:
Was findet sich sonst noch im hinkenden Boten? Da wäre ein Einlegeblatt für den Norddeutschen Lloyd Bremen:
mit heraustrennbarer Postkarte
Eine Zinstabelle und eine Umrechnungstabelle der gängigen Währungen. Überraschenderweise sind die Werte nahezu aller Währungen gleich. Das lässt mich vermuten, dass alle von ihnen noch eine Goldpreisbindung hatten und die entsprechenden Goldmünzen wie 20-Pesetas-Stück, 20-Franken-Stück der Schweiz, Belgiens und Frankreichs, aber auch das 20-Lei-Stück aus Rumänien dieselben Gewichte hatten und daher 1:1 umgetauscht werden konnten.
Es folgen einige Urlaubsangebote:
Für den Schluß habe ich euch das Weltgeschehen aufgehoben. Es ist aus heutiger Sicht schwer vorzustellen, dass man vor etwas mehr als hundert Jahren die Menschen mit Begebenheiten unterhalten konnte, die schon ein Jahr in der Vergangenheit lagen. Mit etwas Abstand liest es sich heute allerdings wieder ganz amüsant, nicht zuletzt aus der Perspektive der Geschichtsschreibung und der heutigen Ansichten der Ereignisse.
Ach übrigens, den Lahrer hinkenden Boten gibt es auch heute noch. Er wird Jahr für Jahr neu herausgegeben.
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