Leben oder sterben – Januar 1944


Vor einigen Wochen hatte ich das große Glück, zwei Kartons voller Briefe vor dem Papiercontainer zu retten. Wie ich beim ersten Durchsehen feststellen durfte, handelt es sich dabei um den kompletten Briefwechsel zwischen meinem Großonkel und meiner Großtante während des Zweiten Weltkriegs.

Mein Großonkel wurde sofort zu Kriegsbeginn eingezogen. Sein erster Brief in dieser Sammlung stammt vom 6. September 1939. Zurückgekehrt ist er im Februar 1945, hat also den kompletten Krieg an der Front verbracht. Während mein Opa leider in Russland gefallen ist, hatte er mehr Glück und konnte wieder heimkehren. Ein weiterer glücklicher Umstand für ihn war, dass er Mitglied des NSKK war, weswegen er nicht an vorderster Front eingesetzt wurde. Stattdessen fuhr er Transporte vor und zurück und zwischen den Stellungen. Das NSKK – also das NationalSozialistische KraftfahrerKorps – hat unter anderem traurige Berühmtheit damit erlangt, dass es bei der Deportation der Juden im Deutschen Reich die Logistik übernahm.

Wikipedia weiß: „Nach dem Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 folgte das NSKK den vorrückenden deutschen Truppen zur infrastrukturellen Sicherung des Nachschubs.“ Ich hoffe, dass das seine Hauptaufgabe war und nicht die Teilnahme an der „Lösung der Judenfrage“. In den nächsten Monaten werde ich die Briefe durchlesen und euch Bericht erstatten.

Mein heutiger Beitrag stellt euch eine Karte und einen Brief vor, den meine Oma an meine Großtante schrieb. Die Karte ist auf den 13. der Brief auf den 17. Januar 1944 datiert und fallen damit schon in die Endphase des Krieges.

Mich haben Karte und Brief doch sehr bewegt, weswegen ich sie euch hier abschreiben möchte. Sie spiegeln das Leben, die Angst und den Umgang mit dem allgegenwärtigen Sterben eindrucksvoll wider.

Liebe Lotte! Jetzt ist es, Gott sei Dank, wieder besser mit mir. Ich bin sehr froh, daß ich es so überstanden habe, und danke Dir für Deine guten Wünsche. Nun hat hier der Kreisleiter gesprochen und die Räumung der Stadtmitte ist geplant, 4 Wochen hätte man Zeit. Ich selbst möchte ja, wenn’s irgend geht, nicht vor Muttis Geburtstag weg. Was soll ich denn nun machen? Ich erhielt zu Sylvester eine Karte einer früheren Pensionsschwester aus dem Harz. Sie scheint dort ein Gasthaus zu haben, wie ich aus der Adresse ersah. Da habe ich nun heute hingeschrieben, und bin gespannt, was sie antwortet. Da oben ist man ja von Gott und aller Welt verlassen, aber von nun an ist ja alles gleich. Ich würde ja gerne zu Dir kommen, fürchte

aber sehr, daß es Deiner Mutti doch nicht recht ist, und möchte Dir keine Ungelegenheiten machen. Daß Du uns gerne nehmen würdest, weiß ich, und bin Dir auch sehr dankbar dafür. Gestern und vorgestern konnte man sich bei der Ortsgruppe zur Verschickung anmelden, leider durfte ich da noch nicht auf die Straße. Muß ich warten bis nächsten Montag. Für das Schlafen in Stadtrandzimmern kommen nur Kinder allein in Frage, ist also für mich nicht möglich. Ich hätte doch keine Ruhe des Nachts. Ich lege Dir mal den Ausschnitt bei. Schickst ihn mir bitte wieder zurück. Wie geht es Dir und Gisela? Hoffentlich seid ihr gesund! Freitag ziehe ich wieder rüber. Für heute herzliche Grüße Deine Elfriede.

Eben ruft Ruth Grimm an. Sie hat Post von Werner vom 31.12.43. Hast du gute Nachricht? Ich mache mir auch Sorgen um Werner.

Meine Oma schien wohl krank gewesen zu sein, so dass sie nicht bei den Kindern sein durfte.

Weiter geht es im Brief einige Tage später:

Erfurt, d. 17. I. 44

Meine liebe Lotte!

Eben erhielt ich Deinen lieben Brief und danke Dir sehr dafür, vor allem für Deine nochmalige Einladung. Hast Du Dir auch alles gut überlegt? Denn wenn wir nun hier weggehen, wird es wohl geraume Zeit dauern, ehe wir für immer wieder heim dürfen. Falls Du es mit uns wagen willst, gehe bitte mit der Verwandten-Meldekarte zur K.V.W. (?) und laß sie abstempeln und schicke mir die eine Hälfte oder beide (ich weiß nicht) wieder zurück. Ich muß dann damit zur Polizei, zum Unterkunftsamt und zur Kreisleitung. Es gibt noch eine Menge Wege zu erledigen, und werden sicher noch 2-3 Wochen vergehen, ehe wir hier weg können. Ich würde ja auch ungern nach dem Harz gehen, aber ich möchte eben nicht,

daß Du irgendwelche Schwierigkeiten hast, deshalb hatte ich der Minni geschrieben. Mutti riet mir auch zu. Aber nun, da Du wieder so lieb geschrieben hast, habe ich wieder Mut gefasst, und komme dann doch lieber zu Dir. Ich habe alle Möglichkeiten erwogen! Auch das Hierbleiben. Ich wäre dann bei jedem Alarm mit den Kindern zu Mutti rübergegangen. Trifft’s dann, so sind wir es eben alle. Andererseits könnten wir aber auch den Eltern im Wege sein, da man im Gefahrenfall doch auf niemanden Rücksicht nehmen muss, und Kinder sind dann doch im Wege. Wiederum komme ich mir auch sehr feige vor, wenn ich fortgehe, und Mutti und Vati müssen hierbleiben. Und keiner will mir raten, was ich tun soll. Es ist schrecklich! Elli ist gestern mit ihren Kindern

nach Georgenthal gezogen. Walter hatte von der Wehrmacht einen 3t Lastwagen. Sie haben Schlafzimmer, Küchenherd und Möbel mitgenommen. Walter hat einfach bestimmt, daß die Schwiegereltern zwei Zimmer frei machen, daß Elli Schlafzimmer und Küche hat. Eine Gartenlaube im neuen Garten hätten sie für mich noch frei, worauf ich dankend verzichtet. Ich wäre sowieso nicht nach G. gegangen, haben noch von damals genug. Du siehst wieder, dass von L.s Seite nie Hilfe zu erwarten ist. Ich bin Dir und Werner darum auch doppelt dankbar, und hoffe, daß ich einmal alles wieder gut machen kann. Nun geht es ja wärmeren Wochen entgegen und eventuell dürfen die Kinder allesamt bei schönem Wetter

Irgendwo draußen spielen, und wir können in Ruhe unsere Arbeit machen. Auf unsere Abende freue ich mich am meisten! Ich habe von Walter einen Volksempfänger leihweise, darf ich den mitbringen? Er geht hier nur mit meiner Zimmerantenne. Nun zu Werners Brief. Der arme Kerl, was hat er durchgemacht! Aber danken wir Gott, daß er gesund aus dieser Hölle gekommen ist. Alles andere ist zu ersetzen, obwohl es für Werner selbst sicher sehr schwer ist alles verloren zu haben, da er sehr an den kleinen Dingen hängt. (In der Beziehung geht’s mir genauso, was meinst Du, wie schwer es mir werden wird, hier so vieles im Stich zu lassen.) Ich danke Dir, daß ich seinen Brief lesen

durfte, und freue mich immer wieder, wenn ich sehe, was Du für ihn bist. Ihr zwei werdet’s schon schaffen! Gott erhalte Euch Euer Glück! Ich hoffe aber, daß Frau Sendig nicht meinetwegen wegziehen will. Das möchte ich nicht. Selbstverständlich bezahle ich Dir das Zimmer auch, ebenso beteilige ich mich am Lichtgeld und was sonst noch ist. Ehe das nicht alles abgemacht ist, komme ich nicht! Mit der Esserei werden wir auch einig. Wie kann ich denn am besten Kartoffeln und Kohlen rüberbringen? Ich werde mal Walter fragen, ob er einen kleinen Wagen bekommen kann. Das wäre prima. Liegt vielleicht im Bereich der Möglichkeit. Na, vielleicht sprechen wir uns

nochmal. Für heute will ich schließen. Ich danke dir nochmals und grüße dich herzlichst!

Deine Elfriede.

Ich freue mich, daß es Gisela wieder gut geht, und bin auch froh, dass meine Drei sich nicht bei mir angesteckt haben. Aber sie durften ja nicht zu mir und sind letzten Freitag zum 2. Mal geimpft worden. Hoffentlich bleiben wir gesund, wenn wir zusammen sind!

Mich hat das Lesen dieses Briefes sehr traurig gestimmt. Wie ich euch ja hier bereits erzählt habe, sind meine Oma und ihre drei Kinder (meine Tante, mein Onkel und meine Mutter) letzten Endes nach Arnstadt evakuiert worden. Ein Jahr später wurde ihr Haus dann doch noch ausgebombt und sie hat all das verloren, was damals die wichtigen Dinge waren: Möbel, Kleidung, Spielzeug. Nicht zurücklassen wollte sie, was sie oben als „kleine Dinge“ beschrieben hat. Darunter war das Tagebuch mit den Andenken an ihren gefallenen Mann. Das hatte ich euch hier gezeigt.

Der kleine Ort Georgenthal, von dem oben die Rede ist, liegt in Thüringen, im Kreis Gotha. Hier lebten die Schwiegereltern meiner Oma. Wie man liest, sind sie wohl nicht die angenehmste Gesellschaft gewesen und waren nur in letzter Not als Evakuierungsziel angedacht. Die genannten „Mutti und Vati“ hingegen waren die Eltern meiner Oma. Sie lebten um die Ecke im schon früher erwähnten Haus am Wenigemarkt 8. Das war von der Futterstraße 7 nur ein Katzensprung von 90 Metern. Allerdings muss man sich vor Augen führen, dass bei einem einsetzenden Fliegeralarm die Mutter mit ihren drei Kindern im Alter von 6, 4 und 3 Jahren und einem kleinen Koffer mit den persönlichen Papieren aus der obersten Etage runterrennen und über die Straße laufen musste. Das klingt einfach als es war.

Wenn ihr es noch nicht getan habt, lest euch hier durch, wie die Geschichte weiterging. Ich bin froh, dass ich mit euch nachträglich zu den Formularen nun auch noch die vorangegangene Geschichte teilen kann. Ich kenne sie selbst erst seit 3 Wochen.

Weil heute der 24. Dezember, Heiligabend ist, wünsche ich euch eine ruhige Weihnachtszeit. Vielleicht denkt ihr ja kurz daran, wie angenehm wir es haben. Zwischen den Briefen sind welche von 6 Weihnachtsfesten (1939, 1940, 1941, 1942, 1943 und 1944), an denen mein Großonkel und seine Frau durch das Kriegsgeschehen getrennt waren. Ab 1941 dann noch zusätzlich mit ihrem neugeborenen Kind, die oben im Brief schon erwähnt wurde: Gisela). Mehr dazu später in der Rubrik Werner-Lotte.

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